Es ist der Traumjob der ehrgeizigen Journalistin Kayla Pospisil (Margot Robbie). Sie will nichts weniger als vor den Kameras von Fox News stehen. Deshalb ist sie zwar vor dem Treffen mit CEO Roger Ailes (John Lithgow) angespannt, aber auch selbstsicher. Bis zu dem Moment, als Roger sie darum bittet, aufzustehen und im Raum ein bisschen auf- und abzugehen: Schließlich seien sie ja bei einem visuellen Medium. Seine nächste Forderung ist, dass Kayla ihr Kleid etwas hochziehen soll. Kayla folgt zögernd. Dann höher und höher, bis wir gemeinsam mit ihm ihre Unterwäsche erblicken. In dieser Szene sind wir die meiste Zeit in seiner Perspektive, obwohl der Film Kaylas Perspektive erzählt. Es wird zwar nicht auf einen Gegenschuss verzichtet, aber da Roger die ganze Szene über sitzt, ist der Gegenschuss auf seiner Augenhöhe und damit auf der Höhe von Kaylas Hintern, den wir links im Bild zu sehen bekommen.
BOMBSHELL (Drehbuch: Charles Randolph; Regie: Jay Roach), der 2020 in die deutschen Kinos kam, wird als ein relevanter Film für die #metoo-Bewegung beschrieben. Basierend auf realen Ereignissen und Personen ist die Figur der Kayla Pospisil fiktiv und synthetisiert die Erfahrung von etwa 20 Frauen, die eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen mussten. Ein Film, der mit der guten Absicht gemacht wurde, die Gewalt, die Frauen in unserer Gesellschaft angetan wird, anzuprangern.
Der Film SHE SAID (Drehbuch: Rebecca Lenkiewicz; Regie: Maria Schrader), basierend auf dem gleichnamigen Sachbuch der Journalistinnen Jodi Kantor und Carey Mulligan, startete 2022 in Deutschland im Kino und behandelt das gleiche Thema. Es geht um die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein. Die beiden Journalistinnen, die auch die Hauptfiguren im Film sind, veröffentlichten 2017 einen Enthüllungsartikel über die sexualisierte Gewalt an Frauen durch den Filmproduzenten, der die #metoo-Bewegung ins Rollen brachte. Der Film zeigt die Zeitspanne, in der die Journalistinnen mit etlichen Frauen sprechen, bis sie genug Beweise in der Hand haben, um den Artikel zu veröffentlichen. Der Titel ist Programm. Frauen sprechen und es wird ihnen zugehört. Weinstein selbst wird nur ein einziges Mal gezeigt: In einer Montage sehen wir ihn von hinten, wie er begleitet von Anwält*innen den New York Times einen Besuch abstattet. Das Gespräch hören wir nicht, die Kamera konzentriert sich auf Carey Mulligan, die ihn – und damit auch uns – anschaut. “The gazed gaze”, wie Joey Soloway einen der wichtigsten Aspekte des Female Gaze nennt: Das Zurückblicken als Antwort auf den patriarchalen Blick.
Dank einer ähnlichen Thematik lässt sich am Beispiel dieser zwei Filme sehr gut über die Darstellung von Gewalt im Film reflektieren, auf andere Formen der Diskriminierung erweitern und eine Haltung dazu entwickeln. Doch bevor wir uns in die Dramaturgie vertiefen:
Wo beginnt Gewalt?
Gewalt wird als der Einsatz physischer oder psychischer Mittel definiert, um einer anderen Person gezielt oder fahrlässig gegen ihren Willen entweder Schaden zuzufügen, sie dem eigenen Willen zu unterwerfen oder der solchermaßen ausgeübten Gewalt durch Gegengewalt zu begegnen. Gewalt ist immer ein Moment der Macht. Sie kann bereits mit einem abschätzigen Blick, einem dahin gesagten Witz oder einer abwertenden Bemerkung beginnen. Auch in dieser psychischen Anwendung zielt Gewalt immer auf den Körper. Jan Philipp Reemtsma teilt sie in DIE NATUR DER GEWALT ALS PROBLEM DER SOZIOLOGIE (Frankfurt am Main, Campus Verlag, 2008.) in drei Grundformen: Die lozierende Gewalt will den unerwünschten Körper aus dem Weg schaffen. Es kann, muss aber nicht, in eine Zerstörung dieses Körpers münden. Sie kann darauf zielen, dass der Körper nicht mehr in einem Ort ist (dislozierende Gewalt) oder, dass der Körper nur in einem bestimmten Ort ist (captive Gewalt). Gewalt kann aber auch ein An-Sich-Reißen des Körpers sein, um etwas mit ihm anzustellen. Anders als in der lozierende Grundform, will die raptive Gewalt den Körper besitzen. Die dritte Grundform ist die autotelische Gewalt, die eine Zerstörung des unerwünschten Körpers will.
Gewalt wird in unserer Gesellschaft prinzipiell delegitimiert. Doch es gibt Coping-Strategien, wie Reemtsma erläutert, um Gewalt institutionell zu tolerieren mit der Begründung, dass die tolerierte Gewalt größere Gewalt verhindere. Sie kann temporalisiert werden: Die Gewalt, die damals noch notwendig war, die noch nötig ist oder die in der Zukunft droht. Auch die Spatialisierung von Gewalt ist eine ähnliche Strategie, die sich auf Räume bezieht, in denen Gewalt noch nicht vermieden werden kann. Und schließlich gibt es noch die Verrätselung oder im Individualfall der Pathologisierung: Gewalt als Resultat eines Defekts.
Hier wird es besonders spannend für das Storytelling, denn der Defekt fasziniert und er tut noch mehr: Er spaltet grundsätzlich vom Normativen ab. Die Gewalt führt zu einer Entmenschlichung und damit zu einer natürlichen Distanzierung. Wir beobachten aus sicherer Entfernung, wie eine Figur mit einer Pathologie – also nicht wie wir – durch Entmenschlichung des Opfers – auch hier nicht wie wir – einen Körper aus dem Weg schafft, über ihn verfügt oder ihn schlicht und einfach vernichtet. Im ersten Schritt wird psychische Erkrankung stigmatisiert. Im zweiten Schritt die Illusion der Entmenschlichung aufrechterhalten. Doch Reemtsma warnt: “Menschen werden als Menschen Opfer der Gewalt, weil sie als Menschen etwas repräsentieren. Frauen werden nicht Opfer von Vergewaltigung, weil man sie zuvor entmenscht hat, sondern indem man sie in der Tat auf ihre körperliche Eigenschaft reduziert.” (Jan Philipp Reemtsma in "Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie”, Frankfurt am Main, Campus Verlag, 2008, S. 57.). Was Reemtsma hier anspricht, ist die Zuspitzung von struktureller Gewalt, die Menschen daran hindert, sich zu entfalten und ein gleichberechtigtes Leben zu führen. Das gilt für alle marginalisierten Menschen und damit auch für alle Formen von Diskriminierung, nicht nur Sexismus.
Gewalt im Storytelling
Geschichten setzen Körper in Beziehung zu Raum und Zeit durch Handlung. Ist dieser Körper weiß, gesund, cis männlich, heterosexuell, nicht zu jung, nicht zu alt und nicht zu arm wird er als intakt verstanden. In Geschichten werden diese Körper verletzt und diese Verletzungen nicht selten als Anstoß für die Handlung genommen. Dabei geht es immer um eine individuelle Verletzung. Raum und Zeit, in denen die Gewalt stattfindet, sind von sekundärer Bedeutung. In der Regel bindet die Gewalt Täter*in und Opfer in einer Beziehung. Es ist eine Form, wie Macht ausgeübt, zurückerobert oder auch stabilisiert wird. Sei es durch Rache, Krieg oder eine Rettung vor dem Bösen.
Marginalisierte Körper hingegen – nicht weiße, nicht gesunde, nicht männliche, nicht heterosexuelle cis Körper, die jung oder alt sind – sind nicht intakt. Manche ihrer Narben stammen nicht aus einer individuellen, sondern einer strukturellen Verletzung. Sie müssen widerständig sein. Das prägt den Charakter, vor allem weil Diskriminierung niemals aufhört. Marginalisierte Körper sind vulnerabel, noch bevor ihnen vielleicht im ersten Akt Gewalt passiert. Dabei spielen Raum und Zeit eine fundamentale Rolle, denn marginalisierte Körper sind nicht in jedem Raum sicher. In diesem Fall ist die Ausübung von Gewalt bereits der gesellschaftlichen Struktur immanent. Wer marginalisierte Körper erzählt, kommt nicht umhin, auch Gewalt zu erzählen. Gewalt abseits von Rache, Krieg oder Rettung vor dem Bösen. Gewalt, die den Körper seiner Eigenmächtigkeit beraubt, ihn fremdbestimmt oder im extremsten Fall auslöschen möchte.
Dieser Blick auf Gewalt macht deutlich, wie diffizil es ist, Gewalt zu erzählen, ohne sie zu reproduzieren. Eine Reproduktion begünstigt immer die Perspektive der Täter*innen und veropfert damit die marginalisierten Figuren ein zweites Mal: Zum einen auf der Ebene der Geschichte. Zum anderen aber auch in der Beziehung zum Publikum. Bei der oben erwähnten Szene aus BOMBSHELL verlässt die Kamera Kayla in dem Moment, in dem ihr Chef sie bittet, im Raum umherzugehen. Die Perspektive bleibt auf der Höhe der Sitzenden, als Kayla aufsteht und auf die Kamera zukommt: Es ist nur noch ihr unscharfer Torso zu sehen. Es ist Roger, der Kayla anstarrt. Wenn Kayla zu sehen ist, ist es nicht ganz die Perspektive Rogers, aber nahezu. Wenn sie das Kleid immer noch ein Stück höher ziehen soll, dann fährt die Kamera wieder ihren Körper ab: Sie zerstückelt ihn erneut. Ein wichtiges Element des patriarchalen Blickes, der im Film BRAINWASHED (Drehbuch und Regie: Nina Menkes) aus dem Jahr 2022 beschrieben wird. Die Kamera macht den Körper erneut zum Objekt, genau wie Roger ihn sieht und macht das Publikum dadurch zu Mittäter*innen. Die Kommentare zu dieser Szene bei Youtube bestätigen das: Die Szene wird als erotisch, heiß, sexy beschrieben, so wie die Figur Roger sie erlebt und nicht als ein Akt der Gewalt. Zwei Kommentare versuchen einzuordnen: “This is not sexy this is disgusting and shows abuse in the industry.” Und hier wird deutlich, wie wichtig es ist, die Perspektive beim Erzählen von Gewalt genau zu bestimmen, sonst kann die Absicht eines Films ad absurdum geführt werden und die Gewalt sogar verdoppeln.
Die Konsequenz der Perspektive bei SHE SAID ist eine Lösung, um der Reproduktion von Gewalt entgegenzuwirken. Wie oben bereits beschrieben, wird der Täter und die von ihm ausgeübte Gewalt nicht gezeigt. Das Publikum sieht die Räume, in denen die Gewalt stattgefunden hat, und nimmt Anteil an den Auswirkungen, die die Gewalt bei den Frauen hinterlassen hat. Ein anderes gutes Beispiel ist der Film DIE AUSSPRACHE (Drehbuch und Regie: Sarah Polley) aus dem Jahr 2022. Hier wird das Thema Vergewaltigung vollkommen aus einer betroffenen Perspektive erzählt. Dabei werden die Vergewaltigungen selbst nie gezeigt – schließlich sind die betroffenen Personen sediert, wenn diese geschehen, und auch die Täter bleiben schemenhaft. Gezeigt werden die Auswirkungen der Gewalt, wie sie sich bei jeder der Hauptfiguren im Körper eingeschrieben haben, und es werden starke Bilder dafür gefunden.
Aber auch wenn Täter*innen gezeigt werden, gibt es Alternativen, aus einer betroffenen Perspektive zu erzählen. So zum Beispiel in der britischen Netflix-Serie ANATOMIE EINES SKANDALS basierend auf dem gleichnamigen Roman von Sarah Vaughan (Drehbuch: David E. Kelley und Melissa James Gibson; Regie: S.J. Clarkson) aus dem Jahr 2022. In der Serie erschüttert ein Skandal das britische Parlament. Der verheiratete Politiker James Whitehouse soll eine Affäre mit seiner Angestellten Olivia Lytton gehabt haben. Seine Frau Sophie, die er seit Studienzeiten kennt, soll ihm zur Seite stehen. Auch wenn sie ihm anfangs glaubt, sind die Termine vor Gericht – und vor allem die Auftritte von Kronanwältin Kate Woodcroft – verstörend. In einer schwierigen Phase des Prozesses hat Sophie ein Gespräch mit Tuppence, James’ Mutter, die der festen Überzeugung ist, dass Olivia Lytton lügt. Sie erzählt über James’ Kindheit: Wie unerschütterlich er in seiner Selbstsicherheit war, wie er schamlos geschummelt hat bei Cluedo und Monopoly und ständig die Regeln ändern wollte. Als Sophie anmerkt, dass er beim Schummeln gelernt hat, dass er mit Lügen durchkommt, bemerkt Tuppence, das sei doch nur ein Spiel. Sophie spürt in dieser Szene etwas, was Sara Ahmed so definiert: “A sensation felt by the skin. […] You sense that something is wrong or you have a feeling of being wronged. You sense an injustice. You might not have used that word for it; you might not have the words for it; you might not be able to put your finger on it.” Ein Gefühl, das etwas ungerecht ist, dass es da, in diesem behaglichen Haus, die Voraussetzungen für die Gewalt geschaffen wurden, die James später in seinem Leben als Mann und als Politiker ausübt. Die Serie zeigt, dass James’ Geschichte keine individuelle ist, sondern dass die Strukturen der Gesellschaft Männern dieses Verhalten ermöglichen.
Bei der Untersuchung der genannten Beispiele wird deutlich: Kreative sind oft um Neutralität bemüht, dabei brauchen sie eine Haltung, wenn sie Gewalt und vor allem, wenn es sich um Gewalt marginalisierter Figuren handelt, darstellen wollen. Hier hilft es, sich folgende Fragen zu stellen:
- Aus welcher Perspektive schaue ich selbst auf die Gewalt, die ich erzählen möchte? Erzähle ich die Gewalt aus einer betroffenen, marginalisierten Perspektive? Unterscheidet sich meine Perspektive von der meiner Erzählung?
- Brauche ich diese Form expliziter Gewaltdarstellung? Wenn ja, warum?
- Was soll das Publikum fühlen und mit wem? Wie genau setze ich das um?
- Mache ich die strukturelle Dimension der Gewalt sichtbar? Wenn nicht, warum nicht?
- Objektivere ich den von Gewalt betroffenen Körper mit der Kamera und nehme ihn damit seine Würde? Wenn ja, warum?
- Bleibt es beim Zeigen der Gewalt oder findet der marginalisierte Körper, der Gewalt erfährt, einen Umgang damit?