Zum Hauptinhalt

Zukunftsserie CHARITÉ - Ein Erfolgsformat wagt sich in dramaturgisches Neuland

Berlin 2049. Spitzenforscherin Maral Safadi übernimmt die Leitung des Instituts für Mikrobiologie an der Charité. Doch die „Barmherzigkeit“ der Klinik wird durch eine neue Gesundheitsreform bedroht. Krankenkassen erstellen für jeden Menschen einen Score und erheben Daten über die Gesundheit und Lebenserwartung, die zur Grundlage einer Behandlung werden. Die Gesellschaft spaltet sich dadurch zusehends und auch innerhalb der Charité gibt es unterschiedliche Positionen zur Reform. Maral Safadis Mutter Seda, eine Chirurgin an der Klinik, will gegen die Ungerechtigkeit der Reform kämpfen und gründet heimlich eine „Schattenklinik“, in der auch Kranke mit schlechtem Score behandelt werden. Während Maral auf einen weiteren Durchbruch ihrer Mikrobiom-Forschung hinarbeitet, läuft so im Untergrund der Kampf für Gerechtigkeit. Schließlich wird die Reform auch privat zur Zerreißprobe zwischen Mutter und Tochter – bis ein Hacker-Angriff die Klinik lahmlegt und alle daran erinnert, wofür sie leben und arbeiten: zum Wohle aller Menschen…

© ARD/MDR/ARD Degeto/Arte/Ufa Fiction/Armanda Claro

In drei Staffeln widmete sich CHARITÉ historischen Persönlichkeiten und Meilensteinen der deutschen Medizingeschichte. Seit diesem Monat beschreitet die ARD-Erfolgsserie neue Wege und erzählt über die Medizin der Zukunft, die mehr denn je von Klimawandel und Politik geprägt ist.

In einem spannenden Gespräch gewähren UFA Fiction Produzentin Henriette Lippold, die Autorinnen Rebecca Martin und Tanja Bubbel sowie Dramaturg Timo Gößler Einblick in die Stoffentwicklung und die vielfältigen Herausforderungen des Genres „Near Future“.

WP: Frau Lippold, Sie sind bereits seit der ersten Staffel für CHARITÉ mitverantwortlich. Wie und wann ist die Idee entstanden, die aktuelle Staffel in der Zukunft anzusiedeln?

Henriette Lippold: Interessanterweise hat sich dieser Trend schon recht früh in der Serienentwicklung abgezeichnet. Nach dem Erfolg der ersten Staffel um die Wissenschaftler Virchow und Koch gab es Überlegungen, welche Zeiträume der deutschen Medizingeschichte für zukünftige Staffeln relevant sein könnten. Und die ehemalige verantwortliche MDR-Redakteurin Jana Brandt, die ebenfalls von Beginn an mit dabei war, sagte immer „Irgendwann zeigen wir dann die CHARITÉ der Zukunft.“ Zum Glück haben Johanna Kraus und Adrian Paul vom MDR, Uta Cappel von ARTE sowie die Gemeinschaftsredaktion der ARD und Degeto diesen Ansatz auch voll unterstützt. Ein mutiger Schritt bei einer etablierten Marke wie der CHARITÉ.

WP: Die Entwicklung der aktuellen Staffel begann im Jahr 2020. Wie hat die Pandemie die Stoffentwicklung beeinflusst? 

Rebecca Martin: Die Pandemie hat die Frage nach der Medizin der Zukunft sicherlich noch einmal erheblich verstärkt. Uns war jedoch von Beginn an wichtig, keine Dystopie zu erzählen.

Trotz inhaltlich brisanter Themen wie Klimawandel und der Spaltung der Gesellschaft wollten wir immer vermitteln, dass in 2049 vieles besser sein wird.

Die Grundlagen für die Gesundheitsreform innerhalb der Serie existieren jedoch bereits: ein verstärkter Fokus auf Gesunderhaltung statt Heilung, Debatten über Mitwirkung, Eigenverantwortung und Scoring-Systeme innerhalb der Krankenversicherung. Die Serie greift diese auch durch die Pandemie relevanter gewordenen Aspekte auf und entwickelt sie weiter.

© ARD/MDR/ARD Degeto/Arte/Ufa Fiction/Armanda Claro

WP: Welche besonderen Herausforderungen ergeben sich in der Stoffentwicklung einer Geschichte, die im Genre „Near Future“ angesiedelt ist?

Tanja Bubbel: Wie bereits angesprochen, wollten wir positiv erzählen und den medizinischen und technologischen Fortschritt aufzeigen. Statistiken belegen, dass in der Zukunft vieles besser werden wird. Trotzdem werden sich viele Dinge nicht wesentlich ändern. CHARITÉ zeichnet sich durch zwei Kernelemente aus, die medizinische Exzellenz sowie eine emotionale Erzählung. Und es zeigt sich, dass menschliche Beziehungen, emotionale Konflikte und Fragen der Integrität in der Vergangenheit eine so große Rolle gespielt haben wie in der Gegenwart – und dass sie diese auch in der Zukunft spielen werden.

Rebecca Martin: Für die Erarbeitung der Storyworld haben wir uns natürlich viele Fragen gestellt. Wie und wo leben die Menschen in 2049? Und wie schaut ihr Alltag aus? Welche technischen und medizinischen Möglichkeiten befinden sich jetzt schon in Entwicklung, wie z. B. Telemedizin? Im Gegensatz zu den vorherigen Staffeln konnten wir nicht auf die Geschichte zurückgreifen, sondern mussten viel recherchieren, um plausibel die Zukunft zu erzählen. 

Henriette Lippold: Aus Produzentensicht stellt sich natürlich auch immer die Frage der Umsetzung. Einerseits ist es eine Frage des Budgets. Doch auch um dem Markenkern treu zu bleiben, wollten wir zu viele Science-Fiction-Aspekte vermeiden. Unser etabliertes Publikum soll sich nicht durch ein zu technikfokussiertes Setting ausgeschlossen fühlen.

WP: Für die Stoffentwicklung war eine fundierte Recherche notwendig. Welche Rolle hat dies für Ihre Arbeit als Dramaturg gespielt, Herr Gößler? 

Timo Gößler: Ich bin erst zum Projekt dazugestoßen, als bereits erste Fassungen der Bücher vorlagen. Dadurch konnte ich einen frischen Blick auf den Stoff werfen und fragen: „Verstehe ich diese Welt und ist sie konsistent?“ CHARITÉ zeichnet sich ja auch durch Akkuratheit aus. Und „Near Future“ zu schreiben bedeutet, das Heute als Ausgangspunkt zu nehmen und plausibel weiterzuentwickeln. Somit musste auch ich mich erst einmal gründlich einarbeiten. Ich konnte vorher bereits einige Erfahrungen im Bereich „Near Future“ sammeln, doch durch die Arbeit an CHARITÉ ist mein Respekt vor dem Genre noch einmal massiv gewachsen.

WP: Wie steht es mit der Entwicklung von Figuren, die durch politische und gesellschaftliche Veränderungen geprägt sind, die uns heute jedoch noch nicht bekannt sind?

Timo Gößler: Die Figuren, ihre Motivationen und Konflikte, müssen auch immer unabhängig von ihrer jeweiligen Welt funktionieren. Aber gleichzeitig müssen die Figuren glaubwürdiger Teil dieser einen erfundenen Welt sein.

Ein geeigneter Ansatz ist, eine spezifische Frage zu dieser Storyworld zu entwickeln, zu der sich jede Figur innerhalb der Geschichte positionieren muss. Das lässt die Figur als Element der Welt schlüssig wirken.

Henriette Lippold: In unserer aktuellen Staffel spaltet eine Gesundheitsreform die Bevölkerung. Auch die Figuren, die in der Klinik arbeiten, positionieren sich unterschiedlich zu dieser Reform. Wir verzichten dabei jedoch auf eine Wertung. Das Publikum soll selbst ausloten, wie es zu diesem Thema steht. Diese Ambivalenz, das Hinterfragen und Aushalten unterschiedlicher Ansichten – das zeichnet eine gute Dramaturgie aus.

© ARD/MDR/Armanda Claro

Timo Gößler: Es ist wichtig, eine Vergleichbarkeit der Figuren herzustellen, da sie ja alle die gleichen gesellschaftlichen Veränderungen erlebt haben, jedoch auch sehr individuell geprägt sind. So stellt sich z. B. die Frage, wann genau eine Figur mit Migrationsgeschichte nach Deutschland gekommen ist. Spielt 2049 eine persönliche Verortung überhaupt noch eine große Rolle? Hier ist es immens wichtig, viele Fragen zu stellen, um zu vermeiden, dass Figuren eher im Heute angelegt sind und dadurch in der Zukunft nicht stimmig wirken. Gleichzeitig gilt es jedoch, auch auf Anschlussfähigkeit für das Publikum zu achten.

WP: Wie in den vergangenen Staffeln steht auch in der aktuellen Staffel eine weibliche Figur im Fokus. Was verbindet all diese Frauenfiguren und was unterscheidet sie?

Henriette Lippold: Die Protagonistin der ersten Staffel ist eine junge Frau, die in der Charité ihre eigenen Behandlungskosten als Hilfswärterin abarbeitet und dadurch ihre Liebe zur Medizin entdeckt. Die folgende Staffel handelt von einer Doktorandin, die im medizinischen Leitbild des Nationalsozialismus gefangen ist und beginnt, diese aufgrund persönlicher Erfahrungen zu hinterfragen. Die Protagonistin der dritten Staffel ist eine junge Ärztin, die das medial nicht sehr häufig gezeigte Frauenbild der DDR verkörpert und ihren eigenen Weg in der männlich geprägten Forschungswelt geht. Somit erzählen die bisherigen Staffeln auch immer von der Emanzipation innerhalb der jeweiligen Zeit. All diese Frauenfiguren verbindet eine starke Motivation und der Wille zur Selbstbehauptung. Diesen Ansatz entwickeln wir in unserer aktuellen Staffel konsequent weiter. Unsere Protagonistin ist eine exzellente Forscherin, vielleicht auch eine mögliche zukünftige Nobelpreisträgerin in der Medizin. Sie muss sich nicht mehr ihren Platz unter Männern behaupten.

© ARD/MDR/Armanda Claro

Tanja Bubbel: Hierin spiegelt sich auch unser Ansatz wider, Zukunft positiv zu erzählen. Als wir uns jedoch mit in der Medizin tätigen Frauen ausgetauscht haben, zeigten sich diese sehr skeptisch, was ihre zukünftigen Möglichkeiten in der Spitzenmedizin angeht. 

Henriette Lippold: Positive Impulse sind gefragt. Daher war es uns wichtig, die altbekannten Klischees zu vermeiden, z. B. beruflich erfolgreiche Frauen, deren Privatleben zwangsläufig unter ihrer Karriere leidet. Wir setzen ganz bewusst auf Konflikte, die in Verbindung mit der medizinischen Expertise unserer Protagonistin stehen. 

WP: Welche weiteren wichtigen Impulse erhoffen Sie sich durch die neue Staffel zu setzen?

Tanja Bubbel: Die medizinische Recherche stimmt uns hoffnungsvoll und das wollen wir durch die neue Staffel auch dem Publikum vermitteln. So wurden wir von einem Neurotechnologie-Experten beraten, der Exoskelette entwickelt, die nicht nur als Gehhilfe für eine Person fungieren, sondern darüber hinaus auch die Nerven stimulieren, damit die Person eines Tages wieder eigenständig laufen kann. Auch der Einsatz von Heilwäldern wie in der Serie gesehen ist für uns richtungsweisend für den zukünftigen Umsatz mit Medizin.

© ARD/MDR/ARD Degeto/Arte/Ufa Fiction/Armanda Claro 

Rebecca Martin: Wir haben auch einen Blick auf andere Gesundheitssysteme geworfen, wie z. B. der britische NHS, da eine verstärkte Angleichung innerhalb Europas zukünftig denkbar ist.

Das Berufsbild der Pflege hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Durch die Serie wollen wir auch zur Aufwertung des Pflegeberufs beitragen, indem wir dem Pflegepersonal entsprechend Raum geben.

Auch agieren das medizinische Personal und das Pflegepersonal in der Serie auf Augenhöhe, da beide gleichermaßen wichtige Faktoren bei der Heilung repräsentieren. 

Tanja Bubbel: Außerdem greifen wir das Thema KI auf. Wir zeigen, dass diese in der Zukunft das Leben leichter gestalten wird, z. B. durch die Übernahme von Administration und Organisation. In einem Klinikumfeld kann dies zu einer Entlastung des Personals führen und so Raum schaffen für mehr Interaktion mit Patient*innen. Das ist unsere Vision einer hoch technologisierten Zukunft.

WP: Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen spielte das Genre „Near Future“ bisher kaum eine Rolle. Kann die neue Staffel von CHARITÉ ein Signal für mehr Genre-Vielfalt setzen?

Timo Gößler: Aktuell befinden wir uns in einer Phase, in der sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen neu ausrichtet. Dass ein Erfolgsformat wie CHARITÉ jedoch nach drei Staffeln Neues wagt, ist eine unglaublich mutige Entscheidung von den Verantwortlichen, die hoffentlich auch nachhaltig etwas bewegt. Jetzt wird es spannend zu sehen, wie das Publikum darauf reagiert. Mir hat es große Freude bereitet, ein so etabliertes Format bei der Erforschung von erzählerischem Neuland dramaturgisch zu unterstützen und ich glaube, dass bei deutschen Serien noch viel Potential ungenutzt bleibt. Hier gilt es, wie bei CHARITÉ die erzählerischen Möglichkeiten auszuloten und mutig und konsequent zu entwickeln.