“Ich erzähle gern Geschichten - sie aufzuschreiben erscheint mir seltsam, so als würde man ihnen einen Teil ihrer Lebendigkeit nehmen, indem man sie fest-schreibt. Insofern gefällt mir das gesprochene, flüchtige Wort am besten. Es erzeugt eine Stimmung im Gemüt, aus der beim Hörer etwas eigenes Entstehen kann - falls er sich angesprochen fühlt. Wenn nicht, dann verflüchtigt sich das Wort schnell, entweicht anderswohin und bleibt dort hängen, wo es ankommt...“
Was wie eine perfekte Anleitung für einen erfolgreichen Pitch klingt, kommt aus einer anderen, wenn auch nicht komplett unverwandten Ecke. Die Psychotherapeutin Hanne Seemann leitet so ihr Vorwort in dem Buch FREUNDSCHAFT MIT DEM EIGENEN KÖRPER SCHLIESSEN. ÜBER DEN UMGANG MIT PSYCHOSOMATISCHEN SCHMERZEN (Klett-Cotta 2007) ein - ein Werk, welches ich allen Beteiligten im kreativen Filmschaffen empfehlen kann.
In der scheinbaren Einfachheit dieser Zeilen öffnet sich eine Tür auf deren Schild der inzwischen landläufig, wenn nicht schon inflationär verwendete Begriff Storytelling steht. Aber welche Welt tut sich hinter dieser Tür auf? Und wird sie in ihrer Ganzheit vielleicht oftmals gar nicht wahrgenommen?
„Ich erzähle gern Geschichten...“ Um eine Geschichte erzählen zu können, findet diese zu Beginn den/die Autor*in und vice versa: Ein Vorgang systemischer Wechselwirkungen. Danach durchläuft sie einen Entwicklungsprozess, der so gestaltet sein sollte, dass der Keim dieser Geschichte seine ursprüngliche Kraft nicht verliert.
Zurück zu Hanne Seemann: “... sie aufzuschreiben erscheint mir seltsam, so als würde man ihnen einen Teil ihrer Lebendigkeit nehmen, indem man sie fest-schreibt...“ Der Vorgang des Fest-Schreibens birgt somit die Gefahr des Verlustes der Lebendigkeit der Geschichte. Schauspieler*innen erhalten ein Drehbuch, dessen Lebenskraft während der Entwicklung möglicherweise schwächer wurde oder verloren ging. Darunter leiden in der Phase der Umsetzung alle Beteiligten vor und hinter der Kamera und schlussendlich auch das Publikum.
“...sie aufzuschreiben erscheint mir seltsam, so als würde man ihnen einen Teil ihrer Lebendigkeit nehmen, indem man sie fest-schreibt...“
Storytelling ganzheitlich bedeutet: - Storyfindung, Storycreating, Storyseeding, Storyplanting - damit wird das Storyfield angelegt. Ein fruchtbares Feld, in dem der Keim der Geschichte wachsen und reifen kann - Storygrowing. Dann erst geht es allmählich über in Storywriting (Exposé/Synopsis/Treatment/Script). Storyacting sollte in diesem Entwicklungsstadium integraler Bestandteil sein, um die Lebendigkeit der Geschichte zu erspüren und zu erhalten. Storytelling (Pitch) ist bereits ein performativer Vorgang und hat idealerweise seine Wurzeln im vorgelagerten Storyacting. In Folge geht es zu Storyproducing und letztlich Storyexperiencing (Cast/Crew/Audience). Nachdem die Schöpfer*innen der Geschichte diese in ihrer Ganzheitlichkeit intellektuell wie emotional buchstäblich am und im eigenen Leib verspürt haben, übernehmen danach die umsetzenden Kräfte diese Aktivität, die sich bis in die Postproduktion fortsetzt. In Folge kann das Publikum die Geschichte zeit- und ortsversetzt immer wieder neu durchleben.
„Writing is creating something out of nothing”, sagte der erst kürzlich verstorbene Drehbuchautor Robert Towne und begibt sich damit in das Feld diverser Schöpfungsmythen, die Schaffung des Kosmos durch Gott aus dem Nichts - creatio ex nihilo. Der Urknall der Geschichte sozusagen. Dem füge ich ausdrücklich hinzu: Nur in der Fülle scheinbarer Leere kann der kreative Funke zünden - die göttliche Idee. Diese hat noch kein Ziel und genügt sich im ersten Moment selbst. Erst in weiterer Folge wird aus dem Moment eine Linie mit Anfang, Mitte und Ende.
Bevor der Verdacht aufkommt, wir könnten in den Story-Esotericism abgleiten, kurz zu Steven Spielberg und seiner Signation zur TV-Serie Amazing Stories (1985 - 87): Eine Gruppe mit Fellen bekleideter Menschen sitzt um ein Lagerfeuer bei Nacht, Frauen, Männer, Kinder, einer von ihnen erzählt mit leuchtenden Augen und leidenschaftlichen Gesten offensichtlich eine Geschichte, Funken stieben vom Lagerfeuer auf, die Kamera schwenkt mit diesen mit in den nächtlichen Himmel und aus den Funken werden Bilder - eine Reise durch Raum und Zeit - Schriftrollen mit Hieroglyphen, griechische Säulenhallen mutieren zu gotischen Kreuzgängen, Symbole von schwarzer und weißer Magie schweben durch die Dunkelheit, ein Ritter schwingt sein Schwert, es wird zum Raumschiff, das sich von der Erde wegbewegt.
Wir blicken aus dieser Distanz auf den blauen Planeten, dieser transformiert sich zu einer Platte auf der Halbleiter, Thyristoren etc. verlötet sind, ein Funke eilt durch die elektronischen Bauteile, ein Bild formt sich, es ist das Gesicht des Geschichtenerzählers in Großaufnahme vom Beginn der Signation, die Kamera fährt zurück, eine Familie wird sichtbar, die vor dem TV Gerät sitzt. Abseits aller Freiheiten in Sachen Ur- und Frühgeschichte erzählt Spielberg schlüssig, worum es geht. Eine Gruppe Menschen lauscht ein und derselben Geschichte und das seit Jahrtausenden. Dabei entscheidet nicht nur die inhaltliche Qualität, sondern auch die Performance des Erzählenden.
Syd Field sagt es pragmatisch: Was erzähle ich wie? Bei Spielberg reist und reift der Feuerfunke auf den Flügeln der Phantasie zum technisch-‘göttlichen‘ Funken, den der/die Geschichtenerzähler*in aus den mythologischen Vorzeiten, über Raum und Zeit hinweg, unverändert sein Publikum faszinierend, in die Massenmedien Kino & TV trägt. Die Geschichte bleibt, wie gesagt, dieselbe, verändert hat sich nur die Technik zur Produktion und Distribution. Steven Spielberg versteht unter dem Terminus ‚Massenmedium‘ weniger die Masse an Produktionen, sondern vielmehr die an Menschen, die gleichzeitig die eine, einzige Geschichte durchleben können - weltweit in diversen Kinos, auf Streaming-Plattformen, im TV etc. Qualität statt Quantität.
„Der Schauspieler ist das einsamste Wesen der Welt. Er ist vollkommen allein mit seiner Konzentration und seiner Phantasie, und das ist alles, was er hat...“, sagt James Dean.
Alle, die jemals vor einer Kamera standen, können erahnen, was der Schauspieler damit meint. Der Raum zwischen Darsteller*in und Kameraobjektiv ist ein energetisch auratisch erfüllter. Klingt wieder esoterisch, ist aber ein Faktum.
Schauspielende wissen darum. Bei einem engen Doppel in Großaufnahme durchdringen sich zwangsläufig die Auren der beiden Darstellenden. Das ist gut fürs Bild, braucht aber ein speziell trainiertes Können, wie mit der jeweiligen Präsenz umzugehen ist. Erfahrenen Regisseur*innen und Camera-Operators ist das klar. Zudem - Je kürzer die Brennweite, desto näher die Kamera und ihr bedienendes Personal. Ab einer Distanz von 1,5 - 2 Metern sind sie Teil der Energie im geweihten Raum, sozusagen Mitspielende. Sie verbinden sich nicht mit dem technischen Gadget, das bedienen sie nur handwerklich gekonnt; die Verbindung findet mit dem Geschehen vor der Kamera statt, dem folgt diese automatisch.
Was nicht unerwähnt bleiben darf: In geradezu zynischer Marketingstrategie zogen die Produktionsfirmen aus dem einsamsten Wesen der Welt Kapital - sie erfanden den gewinnträchtigen Starkult. Der/Die Schauspieler*in wird zu einem unerreichbaren Stern, der hoch oben am Himmel über Hollywood schwebt.
Vor allem in den 50ern und 60ern gingen einige an diesem kapitalistischen Konzept zugrunde, nachdem ihr Privatleben ausgeblendet wurde bzw. nicht stattfinden durfte - das hätte z. B. die gewinnträchtige Marke MM alias Marylin Monroe zerstört. Der österreichische Poet und Liedermacher Andrè Heller schuf 1972, zehn Jahre nach ihrem wahrscheinlichen Suizid, eines der treffendsten Bilder, um dem Starkult poetisch-kritisch ein verbales Denkmal zu setzen. Der Song heißt schlicht und einfach Marylin Monroe:
Marylin Monroe - Dein Tod kam wie ein weißer Zeppelin. Flieg zu den Popcornwolken. Der Atem Gottes trocknet Dir den Nagellack.
Vor allem das Bild in der letzten Zeile verursacht mir jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sich die brüchige Stimme André Hellers über dem symphonischen Arrangement erhebt und im besten Schönbrunner Deutsch ihre Musik gewordene Poesie preisgibt.
„Der Star des Films ist immer die Geschichte", sagt Robert McKee. Gute Schauspieler*innen wissen das und handeln danach. Durch den Starkult und die ganze Red Carpet-Mania in Berlin, Cannes, Venedig oder bei den Oscars wird oft vergessen, wie hart sich Schauspieler*innen eine Rolle, eine Figur und deren Biographie physisch, psychisch und mental erarbeiten - Biographie- altgriechisch βιογραφία = das Aufschreiben des Lebens. Aufschreiben bedeutet eben nicht Fest-Schreiben. Es bleibt eine Verletzlichkeit und Durchlässigkeit bestehen. Leben ist Er-leben - und Erleben heißt Handeln. „Show, don’t tell!" ist eines der wichtigsten Axiome. Körpersprache steht über der Wortsprache. Der Dialog ist lediglich die Textur, darunter liegt die emotionale Landschaft und damit die körperliche Präsenz der Darstellenden. Das muss allen Drehbuchautor*innen und Dramaturg*innen klar sein.
So erzählt beispielsweise Michelle Williams im Making-of zum Film MANCHESTER BY THE SEA, wie sie sich ihre Rolle erarbeitet hat. „Ich habe viel Zeit in der Gegend (Manchester by the Sea) verbracht, mit Leuten geredet. Ich war bei ihren Friseuren, im Einkaufszentrum. Ich shoppe für meinen Charakter. Ich lese, ich mache mir Gedanken, ich beobachte. Ich mache was ich kann, um alle möglichen Details zu kriegen, die es auf die Leinwand schaffen...“
Noch eindrücklicher die Szene, als das Haus brennt und Randi/Michelle Williams zusehen muss, wie ihre drei Kleinkinder hilflos darin verbrennen. Die Darstellerin verkörpert den Schmerz und die Verzweiflung einer Mutter mit all ihrer Energie, das geht über Schauspiel weit hinaus. „...Zu der Szene an dem Tag wollte keiner kommen. Es stand wohl mehrfach auf dem Drehplan, bevor wir es wirklich drehten, weil es ein solches (ihr bricht im Interview die Stimme) Gewicht hatte. Der Vorfall zerreißt jeden, er beendet Beziehungen, er verändert Leute unwiederbringlich. Und daher ist die Person, die ich am Anfang des Films spiele, ganz anders als die Person, die ich am Ende spiele. Ich dachte lange über den Übergang nach, wie sie das emotional und körperlich verändert und was sie durchmachte, um so zu werden, wie sie am Ende ist...“
Die einzelnen Szenen formen sich zu einem Ganzen, zu einem Entwicklungsprozess, wobei die Darsteller*innen in jedem Moment wissen und spüren, wo sie in diesem Prozess stehen und diesen Moment in all seiner Kraft zum Leben erwecken. Casey Affleck/Lee Chandler über Michelle Williams und die Arbeit mit ihr “... Es ist eine Sache, eine Figur zu nehmen, eine Szene und einen Dialog und darin echt gut zu sein, aber etwas anderes die Rolle zum Leben zu erwecken und mehr Tiefe zu geben...“ Da ist sie wieder, die Lebendigkeit vom Beginn.
Von Michelle Williams und Casey Affleck 2017 zurück zu James Dean 1955. Ein gutes Schlusswort, wie ich finde:
„...Es ist nicht leicht, ein guter Schauspieler zu sein. Es ist noch schwieriger, ein Mensch zu sein. Bevor es mit mir vorbei ist, möchte ich beides sein.“