„...Ein Schauspieler muss das Leben interpretieren, und um das zu können, muss er willens sein, jede Erfahrung, die das Leben bietet, zu akzeptieren. Er muss tatsächlich im Leben mehr als das suchen, was er bekommt. In der kurzen Spanne seines Daseins muss der Schauspieler alles lernen, was es zu wissen gibt, alles erfahren, was zu erfahren ist, oder doch so viel wie möglich. Er muss übermenschliche Anstrengungen unternehmen, um im Warenhaus seines Unterbewusstseins alles zu lagern, was immer er für die Darstellung seiner Kunst brauchen kann. Nichts sollte für den Künstler mehr Bedeutung haben als das Leben, nicht einmal sein Ego...“ Sagt James Dean knapp vor seinem Unfalltod 1955 mit nicht ganz 25 Jahren. Es waren ihm nur drei Filme vergönnt, aber davor sammelte er jede Menge Erfahrungen auf der Bühne u. a. am Broadway, in Lee Strasbergs Actors Studio und natürlich im Leben.
Ende der 80er Jahre hatten Tom Schlesinger und Keith Cunningham die geniale Idee, die aristotelische Handlungskurve mit dem Dean’schen Warenhaus des Unterbewussten zu unterkellern, indem sie die unbewusste Bedürfnisebene des Charakters einzogen. Vor dem Beginn der Kurve und damit der aktuellen Filmhandlung setzten sie einen Raum, in dem etwas stattfinden kann und muss, dass der Filmfigur Tiefe und bis zur Heilung des Bedürfnisses auch eine starke psychodynamische Komponente verleiht. Den Raum, in dem dieses Ereignis stattfindet, nannten sie Backstory. Die entwicklungspsychologische Hintergrundgeschichte einer Figur.
Ein Kind kommt als ganzheitliches Wesen zur Welt. Durch verschiedene Einflüsse in seinem sozialen Umfeld erleidet es seelische Verletzungen, manchmal kombiniert mit körperlichen, die diese Ganzheit zerstören. Was ab jetzt im inneren Erlebensraum und im äußeren Handlungsraum geschieht, bedingt einander. Was die Figur allerdings nicht weiß - das bewusste Handeln wird von den Folgen der Verletzungen, die im Unbewussten abgelagert sind, gesteuert.
Damit bilden Schlesinger/Cunningham den Prozess einer lösungsorientierten Kurzzeittherapie ab. Zu Beginn gibt es einen unbewussten Wunsch, eine Sehnsucht nach Wiederherstellung der Ganzheit. Mit dem Katalysator tritt ein antagonistisches Element auf, das den therapeutischen Prozess in Gang setzt. Mit dem Bewusstmachen der Verwundung kommt es zu einem dramatischen Wendepunkt, der letztlich dazu führt, das Bedürfnis nach der neuerlichen Ganzheit zu erfüllen. John Truby nennt diesen Punkt New Equilibrium, das neue, stabile Gleichgewicht. Selbstbild und Fremdbild werden kongruent.
Keith Cunningham beruft sich im Vorwort zu seinem Buch Die Seele des Drehbuchschreibens, Die 16-Story-Steps auf Marty Matthews, ehemaliger Professor für Biochemie an der University of Chicago und dessen lebenslange Frage: „Wie ist eine Geschichte beschaffen, dass sie eine Wunde heilen kann und wie eine Wunde, dass eine Geschichte sie heilen kann?“ Der Untertitel zu dem Buch sagt das Wesentliche für die Arbeit von Drehbuchautor*innen und deren dramaturgische Begleitung aus -
Über das Schreiben, die dramaturgische Wahrheit und die innere Entwicklung des Autors, der Autorin.
Das macht Drehbuchautor*innen und Dramaturg*innen zu Seelengefährt*innen der Schauspielenden. Es öffnet schon im Vorfeld und somit im Stoffentwicklungsprozess einen großen Verantwortungsraum für deren seelische Stabilität am Set, das schließt natürlich die Regie mit ein. Daraus entstand das spezielle Coaching für das darstellende Personal, vor ein paar Jahren angeregt, bzw. dringend notwendig geworden durch die #MeToo-Bewegung, um die Funktion des Intimacy Coordinators erweitert.
Was Tom Schlesinger & Keith Cunninham vor ungefähr 35 Jahren damit in die Wege leiteten, ist die Abwendung von plot-driven zu character-driven stories. Erleidet ein Kind oder heranwachsender junger Mensch Verwundungen, weil in seinem/ihrem Kulturkreis eine heftige Krise ausbricht und die Entwicklung beeinflusst (z. B. die Covid 19-Pandemie oder kriegerische Konflikte wie im Sudan, in der Ukraine oder dem Nahen Osten), kommt noch ein starker Faktor zum Tragen - ein Konzept, das Dramaturgin Eva-Maria Fahrmüller World-Driven Story nennt.
Jede Figur im Drehbuch bedingt seitdem die Entwicklung einer Pre-Story, einer Charakterbiografie, eines Psychogramms. Dieser Prozess bildet die Brücke zwischen den Autor*innen, die sie begleitenden Dramaturg*innen und den Schauspielenden, die die geschriebene Geschichte zum Leben erwecken. Das Set wird zu dem, was ich aus meiner Erfahrung heraus den Geweihten Raum nenne. Ein Begriff, der nichts mit gängigen Glaubenslehren zu tun hat, sondern mit Respekt, Verantwortung, der Würde des Menschen. Schauspielende brauchen diesen Vertrauensraum, um sich in ihrer ganzen Verwundbarkeit der Darstellung hochkomplexer Charaktere und deren Interaktionen zu widmen. Keith Cunningham nennt diesen Raum Storyfield - ein fruchtbarer Boden, in dem der Samen einer Geschichte eingepflanzt und zum Blühen, Wachsen und Reifen gebracht wird. Die Kräfte, die diese Frucht dann ernten, bilden das kreative Personal am Set, im Studio, on Location.
Um diese Komplexität einer Figur sicht-, hör-und spürbar zu machen, braucht es die Entwicklung der Handlungsoberfläche und den darunter liegenden inneren Erlebensraum. Im Fachjargon spricht man oft von Text und Sub-Text. Was ich eher verwirrend finde, da Schauspielende nicht zwei, noch dazu gegenläufige Texte, gleichzeitig umsetzen können. Durch meine Erfahrungen in der Ausbildung von Schauspielenden und Drehbuchautor*innen habe ich mich daher für den Begriff der emotionalen Landschaft entschieden, eine stille Verbeugung vor Arthur Schnitzler und seinem Bild der Seele als weites Land.
Blau markiert die Handlungsebene und Rot die Themenebene. Der Sub-Text bzw. die emotionale Landschaft sollte immer gegen den Strich des Textes gebürstet sein, oder wie man in der angloamerikanischen Filmszene sagt, against the grain - ein Gerstenkorn am Halm von oben nach unten streicheln oder eine Katze von der Schwanzspitze Richtung Kopf. Sind Text und Sub-Text gleich, fühlt die Figur gleichzeitig das, was sie sagt, wird eine der Erzählebene dazu verwendet, um die andere zu kommentieren und/oder zu bestätigen. Das passiert in diversen TV-Dramen, die im Fachjargon Bügelfilme genannt werden. Geschichten, die das Publikum emotional nicht allzu sehr aktivieren, man daneben noch andere Arbeiten verrichten oder den Raum verlassen kann, ohne den Zusammenhang zu verlieren.
Die in Grün gehaltenen Regieanweisungen beziehen sich in diesem Diagramm vor allem auf die Momente, in denen Sprachlosigkeit vorherrscht. Interessanterweise tauchen diese Momente der Stille, des Schweigens, der Pause in den psychologischen Dramen von Ödön von Horvath, Anton Tschechow und Arthur Schnitzler auf, dazu gesellen sich noch Henrik Ibsen und August Strindberg. Parallel zu diesen Neuerungen entwickelt Konstantin Stanislavski die erste Methode für ein Schauspieltraining, in dem erlernt wird, diese Momente umzusetzen. Gleichzeitig beginnt die Geschichte des Bewegtbildes auf der Leinwand - die Geburt des Filmes. Der Regisseur Istvan Szabo bezeichnete es einmal als Privileg des Publikums, das quasi live dabei sein kann, wenn on screen ein Gefühl entsteht - in Großaufnahme.
Beachtenswert ist noch der Moment größter emotionaler Erregung, in denen Text und Sub-Text oder Wort- und Körpersprache eins werden. Da sollten Autor*innen, Dramaturg*innen und Schauspielende auch auf die eigenen Lebenserfahrungen zurückgreifen können.
James Deans Mutter starb mit 29 Jahren an Gebärmutterkrebs, Jimmy, wie er genannt wurde, war damals neun. Seine Mutter hatte seine künstlerische Ader entdeckt und gefördert, seinem Vater war das eher fremd und somit war auch sein Sohn ihm fremd. Damit zerbrach Jimmys Ganzheitlichkeit, die Suche nach der Einheit beschäftigte ihn für den Rest seines kurzen Lebens. Was ihn so besonders macht, er nahm all diese psychischen Verwundungen und die Folgen davon in sein Schauspiel hinein und machte sie zu einer der Quellen seiner Darstellungskunst.
Das, was eine Figur sagt und das, was sie meint, sind daher zwei verschiedene Ebenen. Das Gesagte entspricht nicht dem Gefühlten. Verbale und non-verbale Ebene, Wort- und Körpersprache sind entgegengerichtet. Den Dialog nimmt das Publikum bewusst wahr, die Körpersprache unbewusst. Ob eine Frau zu einem Mann ‚Ich liebe Dich‘ sagt und dabei die Arme um ihren Oberkörper schlingt oder sie öffnet, ist different. Der Film hat gegenüber dem Theater den Vorteil, den Sub-Text, die emotionale Landschaft um die Figuren herum zu visualisieren. Es macht in der Wahrnehmungsverarbeitung und damit im Beziehungsaufbau der Zusehenden zum Geschehen auf der Leinwand einen Unterschied, ob ein Paar (Mann/Frau, Mann/Mann, Frau/Frau) sich heiß und innig vor einem Aquarium küssen, in dem ein Hai gerad hinter der Glaswand sein Maul aufreißt oder vor einem wogenden Kornfeld in der aufgehenden Morgensonne. Es gibt das Begriffspaar von Planting und Pay Off, dazu gesellt sich noch der Terminus des Foreshadowing, etwas wirft seine Schatten voraus. Anton Tschechow sagte pragmatisch: ‚Wenn im 1. Akt eine Büchse an der Wand hängt, sollte sie im 4. Akt schießen.‘ Einzige Ausnahme von der Regel - Alfred Hitchcocks MacGuffin.
Im Entdecken, Entwickeln und Schreiben ihrer Geschichten - und der darin handelnden Charaktäre - sind Autor*innen ihre eigenen Schauspieler*innen. Ohne diese Erfahrungen sind sie nicht in der Lage, den Subtext, die emotionale Landschaft des Films zu gestalten. Ohne den Subtext wäre das Drama seit Shakespeare undenkbar, ebenso wie die modernen Schauspieltechniken von Konstantin Stanislavski über Lee Strasberg’s ‚Method Acting’ zu Eric Morris’ ‚No acting please’ und Sanford Meisner’s ‚Meisner Technique’, die sich auf den wunderbar systemischen Satz ‚acting means reacting’ reduzieren lässt. In der Umsetzung beeinflusst der Subtext die thematische Ebene und damit die gesamte audiovisuelle Codierung, die sicht- und hörbare Welt des Films, die dadurch auch zu einer fühlbaren wird.
Damit aber ein*e Schauspieler*in diese emotionale Landschaft überhaupt bereisen kann, um währenddessen die Geschichte seiner/ihrer Filmfigur zu erleben und zu gestalten, muss jemand schon zuvor dort gewesen sein – der/die Autor*in.
Teaser Teil 3
„Der Schauspieler ist das einsamste Wesen der Welt....“ beschreibt James Dean. Wie finden Autorinnen und Dramaturginnen aus ihrer Einsamkeit in die der Schauspielerin. Die vier Grundbedürfnisse des Menschen nach Klaus Grawe und warum Filmschaffende ein Jahr lang im Fußballstadion im Ultras-Block verbringen sollten. John Truby’s BLOCKBUSTER-Modell als prototypisch für den erfolgreichen Prozessverlauf einer lösungsorientierten Kurzzeittherapie. Das Modell der Tiefenstruktur aus seinem User Manual. Keith Johnston - Theorie und Praxis vom Arbeiten mit Hoch- und Tiefstatus und warum alle Autor*innen und Dramaturg*innen auf alle Fälle sein Buch über IMPROVISATION UND THEATER lesen sollten. Das EGO STATE-Modell von Helen und John Watkins zur Entwicklung komplexer, vielschichtiger Figuren. Tony Barr’s Buch ACTING FOR THE CAMERA und daraus Subtextübungen, um den Status ganzkörperlich zu erspüren.