Immer schon konnte die Beschäftigung mit Filmkunst ein einsames Geschäft sein. Wenn in der Vorführung des neuesten Films von Gaspar Noé, einem radikalen Filmkünstler der Gegenwart, nur vier Personen im Saal sitzen, ist das also nichts Ungewöhnliches – und wird in der Motivik des Films bemerkenswert aufgegriffen: VORTEX behandelt u.a. den Tod eines Cinephilen. Die Wohnung der Hauptfigur (gespielt von der Kinolegende Dario Argento) ist vollgestopft mit Büchern, Plakaten, Devotionalien des Kunstkinos. Dieser Schatz wird im Film schlussendlich brutal entsorgt, ja buchstäblich ausgelöscht. Man kann dies als prophetische Metapher deuten: Sterben die Cinephilen tatsächlich aus?
Die Frage birgt gewaltige Implikationen. Cinephile sind (waren?), salopp umschrieben, Personen, welche Filmkunst als Teil der großen westlichen Kunsttradition verstehen. Kino bedeutet in dieser Lesart ein Universum, dessen Gesetze nicht nur vom Markt definiert werden, sondern von ästhetischer und gesellschaftlicher Sinnhaftigkeit. Der Himmel des tagtäglichen Marktgeschehens wird für Cinephile bestrahlt von Fixsternen künstlerischer Integrität, deren Namen Eisenstein lauten können, Fellini, Ozu, Tarkowsky, Bergman, Akerman, Lynch oder ... – sie alle dienen als Koordinaten der Orientierung in einem Raum, welchem aus deutscher Sicht Künstler wie Murnau, Lang, Fassbinder, Herzog, von Trotta, Wenders usw. hinzuzurechnen sind. Zum Universum der Cinephilie gehören zudem die kommentierenden und kuratierenden Akteurinnen und Akteure des Feuilletons, der Kritik, des Festivalwesens usw. Für sie alle ist Filmkunst Teil eines großen, jahrhundertealten historischen kulturellen Stroms, der sich durch die Kinosäle zieht. Es lohnt sich, diesen näher in den Blick zu nehmen.
1. DER KUNSTVERTRAG
Im Buch „Der Publikumsvertrag“ habe ich jene Prinzipien zu beschreiben versucht, welche das tagtägliche Marktgeschehen des Kinos als Dienstleistung definieren. Dieses imaginäre, ungeschriebene Set von Übereinkünften reguliert das Verhältnis zwischen der Nachfrage des Publikums einerseits sowie dem Angebot der Filmindustrie und ihrer Kreativen andererseits. Aus diesem Zusammenspiel von Geben und Nehmen entsteht – vereinfacht ausgedrückt – der Markt der Film-Dienstleister mit all seinen kommerziellen und merkantilen Mechanismen, Stereotypen, Genres und dramaturgischen Mustern.
Zugleich existiert eine Art stillschweigende und der Marktwirtschaft entkoppelte Übereinkunft, die man als ‚Kunstvertrag‘ beschreiben könnte. Er besteht in einer Wertschöpfungskette, welche sich der materiellen Dienstleistungslogik entzieht. Bei diesem wiederum komplexen Regelwerk von stillschweigenden Übereinkünften, welche vor allem in Malerei, Literatur, Musik usw. zur Anwendung kommen, geht es nicht um die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern um die Ermöglichung ästhetischer Erfahrungen. Kunst ist dazu da, Kollektiven tiefe Erlebnisse jenseits des Erwartbaren, des Nützlichen, gut Verkäuflichen oder anderer Interessen zu ermöglichen. Daraus erwächst ein kollektives Verständnis von Sinn.
Dafür stellt die Gesellschaft den Kreativen materielle Bedingungen zur Verfügung. Kunst versteht sich im Kern nicht als Dienstleistung, sondern als Geschenk, welches freilich irgendwann in den Marktkreislauf eingespeist wird, aber eben nicht um des Profits willen. Sie will berühren, erschüttern, überwältigen. „Du musst dein Leben ändern“, formuliert es Rilke. Ähnliches widerfährt idealerweise den Freunden der Filmkunst.
Kunst ist dazu da, Kollektiven tiefe Erlebnisse jenseits des Erwartbaren, des Nützlichen, gut Verkäuflichen oder anderer Interessen zu ermöglichen.
Die Gesellschaft bedient diesen Kunstvertrag mit viel Steuergeld: Theater, Opernhäuser, Museen, aber eben auch Filmförderungen und Festivals verschlingen viel Geld. Diese nicht-kapitalistische Wertschöpfungskette bildet den Kern und Stolz der westlichen Welt, ja letztlich begründet sie sogar ihre demokratische Verfassung. Vor einem Kunstwerk ist jeder gleich, und jeder hat Recht. Dass Kunst mitunter eine sehr unheilige Allianz mit Geld, Markt und materiellen Interessen eingehen kann, steht auf einem anderen Blatt.
2. ZWISCHEN PUBLIKUMS- UND KUNSTVERTRAG
Publikumsvertrag und Kunstvertrag sind keine einander ausschließenden Prinzipien, sondern zwei Pole im unendlich vielfältigen Spektrum der kulturellen Produktion. Sie durchmischen sich permanent: Auf der einen Seite stehen materielle Interessen, auf der anderen ideelle. Da Film ungleich teurer ist als jede andere Kunstform, lauern hier massive Konflikte. So kam es immer wieder zu Zerreißproben, die der Filmindustrie viele Desaster, aber noch viel mehr großartige Ergebnisse bescherte. Aus Sicht des Kunstvertrags ist jener Film ‚der Beste‘, der die ästhetische Empfindungsfähigkeit am tiefsten und nachhaltigsten berührt – und dies ist nicht in Zahlen auszudrücken.
Aus Sicht des Publikumsvertrags aber ist jener Film ‚der Beste‘, der mit dem geringsten finanziellen Aufwand das größte Publikum erreicht. Dabei gibt es geniale kommerzielle Ware und missglückte Kunst – und auch umgekehrt. Keines ist besser oder schlechter. In praktisch allen Diskussionen über die sogenannte Qualität filmischer Arbeit und Förderungswürdigkeit von Projekten kollidieren, vermischen und widersprechen sich diese Kategorien und ihre Vertreterinnen bzw. Vertreter. Mal ‚funktioniert‘ ein Film oder eine Serie angeblich, weil sie viel geschaut, und mal, weil sie einfach für ‚qualitativ hochwertig‘ oder ‚künstlerisch gelungen‘ erklärt werden, egal wie viele Leute diese Meinung teilen. Die Bewunderer der Filmkunst schauen oft indigniert auf die Machwerke der Gebrauchskultur; umgekehrt aber brachte diese ihre eigenen Meisterwerke hervor, welche alles snobistische Naserümpfen in die Schranken wiesen.
3. DER DIGITALE RAUM
Dass die Idee des Kunstvertrags gegenwärtig unzeitgemäß scheint, ja seinen Anhängern laut Gaspar Noé womöglich die völlige Auslöschung droht, hat vor allem damit zu tun, dass der tiefgreifende soziologische Wandel der Digitalisierung die Grundsätze des Kunstvertrags in Frage stellt. Indem die großen kathartischen Erfahrungen – wenn sie sich denn einstellen – im Netz kaum im Kollektiv und gemeinsamen Hier und Jetzt geteilt werden, verlieren sie viel von ihrer Tiefe und gesellschaftlichen Bedeutung. Die Chefs d’Oeuvres sind einfach alle da, mit einem Click abrufbar und meistens umsonst. Wie soll da die spezifische ‚Aura‘ von Kunst entstehen?
Intensive ästhetische Erfahrungen im herkömmlichen Sinne sind daher durch schnelles Reinklicken und das Verteilen von Likes ohnehin kaum zu erlangen. Bachs „Matthäuspassion“ oder Goethes „Faust“ sind via YouTube so schwer als Ganzes zu erfassen, wie ROMA – CITTA APERTA oder ONKEL BONMEE ERINNERT SICH AN SEINE VERGANGENEN LEBEN. Die Algorithmen der Streamingdienste, die darüber befinden, welche Produktionen unter welchem Budget welche Erfolgschancen haben, sind für künstlerische Wertmaßstäbe taub. Daher eignet sich das Internet zwar hervorragend, den Publikumsvertrag mit seiner Dienstleistungsästhetik zu bedienen. Genuin künstlerischen Ambitionen aber bietet es noch wenig Raum. Eine Filmkunst, die sich allein dem Internet verdankt, hat sich noch kaum herausgebildet.
Man wird einwenden, dass es Filmkünstlerinnen und -künstler wie Jane Campion, Noah Baumbach oder Alejandro Inarritu gibt, die ihre Arbeiten von Streamingdiensten finanzieren lassen. Gleichwohl kann das, was ihre Werke dort entfachen, nicht mit den staunenerregenden Wellen von öffentlicher Aufmerksamkeit und mythischer Aura mithalten, welche Filme wie LA DOLCE VITA oder 2001 – ODYSSEE IM WELTRAUM und viele andere einst im Kino auszulösen vermochten.
4. IM LAND DER DICHTER UND DENKER
Mit dem ‚Kunstvertrag‘ aber hat der deutsche Film schon seit Jahrzehnten seine Probleme. Nicht nur der Nationalsozialismus führte vor Augen, was passiert, wenn die emotionale Kraft des Kinos missbraucht wird. Auch die Nachkriegszeit bestätigte jahrzehntelang den Verdacht, dass im Kino ‚große Gefühle‘ oder ‚großes Publikum‘ nur Synonyme für Schund oder Massenware sind.
Dieses Missverständnis wurde erst in der Zeit des ‚Neuen Deutschen Films‘ – großzügig gerechnet zwischen 1965 und 1989 – ausgeräumt, wo Namen wie Fassbinder, von Trotta, Wenders, Herzog usw. dafür sorgten, dass Filme mitunter zu regelrechten Lagerfeuern werden konnten, um die sich eine ganze Nation versammelte. Die Frage, was nun genau dazu geführt hat, dass von der Begeisterung so wenig übriggeblieben ist, wäre eine eigene Untersuchung wert. Auf jeden Fall darf man annehmen, dass sich mit dem vermeintlichen ‚Sieg‘ westlicher Ideale nach 1989 auch in der Kultur eine Wende vollzogen hat – hin zum neoliberalen Mantra, welches Kultur als Gegenstand der Profitmaximierung versteht und so den ‚Kunstvertrag‘ einseitig kündigt.
In diesem Sinne wurde das Filmfördergesetz seit den 80er-Jahren kontinuierlich derart umgebaut, dass die Förderung von Kinofilmen immer unmittelbarer an Entscheidungen der TV-Sender verknüpft wurde. Diese aber sind zu nichts anderem angehalten, als an ein möglichst großes Publikum zu denken. Seit dem Siegeszug der algorithmusgesteuerten Programmregeln der Streaming-Plattformen hat der Publikumsvertrag die Welt des Films erst recht fest im Griff. Alle Beteiligten sind permanent gezwungen, die Routinen und Glaubenssätze der Sender und Plattformen mitzudenken.
Dadurch ist die Spaltung der Filmbranche systemisch geworden: auf der einen Seite die Dienstleister mit ihrem Blick auf das große Publikum – auf der anderen die Vertreter eines künstlerischen Anspruchs, der mit Recht seine Freiheit zu verteidigen sucht, oft aber um den Preis der tiefen emotionalen Wirkungen, die man lieber dem Fernsehen überlässt. So entstanden unzählige spannende, sperrige, innovative, von der Kritik hochgelobte Filme mit beklagenswert geringer Resonanz. Gleichwohl zeigte sich, dass im Falle der wenigen Filme, denen es gelungen ist, ihre eigenen Ansprüche gegen alle Widerstände durchzusetzen, etwa im Fall von Michael Haneke, Christian Petzold, einer Maren Ade oder Nora Fingscheidt, das Interesse im bildungsgesättigten Deutschland an anspruchsvoller Filmkunst doch sehr groß sein kann.
EINE ZUKUNFT?
Wenn es gelingen sollte, dem deutschen Film wieder mehr heimisches Publikum und auch internationale Anerkennung zu verschaffen, und die Idee der Cinephilie zu erhalten, müsste sich zweierlei dringend ändern: Politisch ist es absolut überfällig, die Zwangsehe von Publikums- und Kunstvertrag zu lösen und das Kino aus dem Würgegriff der TV-Sender zu befreien. Gegenwärtig arbeitet Kulturstaatsministerin Claudia Roth an einem Entwurf, der 2024 in Kraft treten soll. Wir können gespannt sein. Doch das wäre erst der Anfang. Dann nämlich stünden all die Kreativen, Förderer, Entscheiderinnen und Entscheider in der Pflicht, sich wieder des Kunstvertrags und seiner Aufforderung zu großen ästhetischen Erfahrungen zu entsinnen. Denn Kunst kennt keine Tabus – auch nicht das der Publikumswirksamkeit. Sie hat zwar mit Freiheit, aber auch mit emotionaler Resonanz zu. Man wünscht sich einen Prozess, in dem alle lernen, politischer, poetischer, radikaler zu schreiben, zu entwickeln, zu inszenieren, und solchen Filmen auch etwas zuzutrauen – wie das in jenen Ländern der Fall ist, die beneidenswerterweise regelmäßig in Cannes und Venedig präsent sind UND auch hierzulande ein großes Publikum finden. Es fällt vielleicht schwer, zu glauben, dass ein solcher Prozess hierzulande gelingen kann – das sollte uns aber nicht hindern, daran zu glauben.