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Moral und Erzählen

© Pixabay

Vor einigen Wochen las ich einem Dreijährigen „Hänsel und Gretel“ vor. Innerhalb weniger Sätze bekam er glasige Augen und reagierte nicht mehr auf Umgebungsreize. Er fiel in eine Trance. Ein extremer Fall von Narrative Transportation, wie die Psychologie das Phänomen nennt, dem nicht nur Dreijährige, sondern wir alle in Abstufungen anheimfallen. Die Wirkungen auf uns sind nicht zu unterschätzen. Wir sind evolutionsbiologisch auf den Einfluss von Narration programmiert. Geschichten erschaffen unseren Erfahrungshorizont, unsere Realität – dazu sind sie da. Funktionale MRT-Untersuchungen zeigen, dass unsere Hirnaktivität beim Rezipieren von Geschichten nicht die einer Beobachterin oder eines Beobachters, sondern eines Teilnehmenden des Geschehens ist. Das erlaubt uns, geistig und emotional probezuhandeln und ohne schmerzhafte Erfahrungen etwas für unser (Über-)Leben zu lernen.

Folgerichtig stellt sich die Frage:

Was wollen wir lernen? Wann vermitteln Geschichten nützliche und wann womöglich schädliche Lektionen? Sollte man einem Dreijährigen „Hänsel und Gretel“ vorlesen, so düster und brutal, wie es darin zugeht?

Fragen nach erzählerischer Verantwortung sind ein Thema unserer Zeit. In der Stoffentwicklung und in der Veröffentlichung haben sich neue Verfahren etabliert: Sensitivity Reading, Triggerwarnungen etc. Unser Blick richtet sich zumeist auf die Frage, ob ein Werk seelische Verletzungen auslöst und ob es einer moralischen Beurteilung standhält. Leitideen wie Repräsentation, Vermeiden von Stereotypen, Vermeiden diskriminierender Sprache und anderes mehr bestimmen unsere Entscheidungen. Unser Blickwinkel ist jedoch verengt, einerseits inhaltlich, auf den Stand des Moral-Diskurses, andererseits formallogisch, da eine Auseinandersetzung mit dem Wissen anderer Fachrichtungen oft unterbleibt. Viele Disziplinen diskutieren das Thema indes, darunter mehrere Forschungszweige der Psychologie, der Neurowissenschaften, der Philosophie und der Kognitionswissenschaft. Sie alle füttern das Feld seit Jahrzehnten mit neuen Erkenntnissen.

Treten wir also einen Schritt zurück. Sehen wir uns einige grundlegende psychologische Wirkmechanismen des Geschichtenerlebens an, und überlegen wir, welche moralischen Fallstricke sich dadurch für Autorinnen und Autoren und alle an der Stoffentwicklung Beteiligten auftun.

I. Narrative Persuasion

Die Studienlage ist konsistent: Geschichten besitzen eine immense Überzeugungskraft. Der Effekt der sogenannten Narrative Persuasion ist umfassend. Er erstreckt sich auf unsere Emotionen, unsere Haltungen, unsere Überzeugungen, unsere Absichten und unser Verhalten. Alle Wirkungen sind darüber hinaus nachhaltig, denn es ist ein Sleeper-Effekt festzustellen, das heißt, die Auswirkungen der Einflussnahme stellen sich erst später und ohne unsere bewusste Kenntnisnahme der Ursache ein.

Da wir den Einfluss der Narrative nicht bewusst spüren, unterschätzen wir ihn leicht. Seine Konsequenzen sind jedoch gravierend, umso mehr, wenn uns Narrative wiederholt präsentiert werden und wenn wir sie deshalb als wahr oder alternativlos anzusehen beginnen.

Die Fiktion ahmt dann nicht nur menschliche Handlungen nach, sondern Menschen ahmen – unbewusst – die Fiktion nach.

Ein Beispiel: Das Fernsehen ist reich an Krimis, in denen der sexuelle Missbrauch einer Frau gezeigt wird und in denen es der Frau nicht gelingt, sich zur Wehr zu setzen oder die Tat gar abzuwenden. Dieses immer wieder abgespulte Narrativ trägt unterschwellig dazu bei, dass sich die Überzeugung bildet, dass Frauen solchen Situationen hilflos ausgeliefert sind. Sicher ungewollt wird damit dem Phänomen der erlernten Hilflosigkeit in die Hände gespielt.

Ganz anders, mit einem positiven Effekt, wird die narrative Überzeugungskraft im Märchen „Hänsel und Gretel“ eingesetzt. Die Hauptfiguren werden zwar Opfer traumatischer Erfahrungen, beweisen jedoch Handlungsmacht gegenüber allen Bedrohungen. Psychologisch klug suggeriert die Geschichte, dass wir auch schlimmsten Krisen gewachsen sind. Sie fördert, was die Psychologie eine Selbstwirksamkeitserwartung nennt.

II. Reaktanz

Geschichten wecken nicht nur die Neigung in uns, das Erlebte zu spiegeln, sie können auch gegenteilige Effekte haben. Wenn eine an uns gerichtete Botschaft unsere (Entscheidungs-)Freiheit zu bedrohen scheint, dann reagieren wir leicht mit Ärger, Ablehnung und sogar mit einer Änderung unserer Meinung. Resultat: Wir tun das Gegenteil des Gewünschten. Die Psychologie nennt das Reaktanz. In der Kindererziehung und in gesellschaftlichen Debatten lässt sich dieser Effekt gut beobachten.

Es gilt: je stärker wir die Beeinflussung wahrnehmen, umso stärker ist die ausgelöste Reaktanz und umso weniger wirkt die Beeinflussung.

Mithin wirkt es sich kontraproduktiv aus, wenn in Geschichten ein erhobener Zeigefinger sichtbar wird. In den Benutzerrezensionen auf IMDb zu Filmen und Serien von Disney und Netflix ist dieser Abstoßungseffekt derzeit des Öfteren abzulesen. Rezensierende fühlen sich vom Bemühen um Diversität abgestoßen und machen das zum Beispiel an tendenziösen Figurenzeichnungen fest. Ob die jeweils angeführten Argumente zutreffen oder reine Rationalisierungen sind, ist dabei völlig unerheblich. Es ist die gespürte Einflussnahme, die die entscheidende Wirkung ausübt. Getreu dem Motto: Man merkt die Absicht und ist verstimmt.

Reaktanz lässt sich nicht komplett verhindern, denn Kommunikation ist wesensgemäß paradox und erzeugt gegensätzliche Kräfte. Sie lässt sich jedoch vermindern. Mittel, mit denen das gelingt, sind eine geschickte Empathiesteuerung, Humor, Vermittlung über nicht bewusst verarbeitete Bilder, paradoxe Kommunikation, eine integrale Verzahnung von Botschaften mit dem Gesamtwerk und anderes mehr.

Der Königsweg zum Umgang mit Reaktanz ist es, sie als nützlich zu betrachten. Reaktanz lässt sich zum einen geschickt so einsetzen, dass sie eine gewünschte Wirkung hervorbringt. Zum anderen verbergen sich in ihr stets Hinweise auf tabuisierte oder nicht genügend wahrgenommene Aspekte eines Themas – also auf potenzielles Material für ein vertieftes narratives Ergründen.

III. Dominanz unbewusst-emotionaler Botschaften

Auf zur nächsten Komplexitätsstufe: Geschichten senden nicht eine einzige Botschaft, sondern viele, teils inkongruente. Unser Gehirn gewichtet sie unterschiedlich. Kognitiv deduzierbare Botschaften – also die, die wir über unseren Neocortex entschlüsseln und die gern im Feuilleton besprochen werden – entfalten dabei die geringste Wirkung auf uns.

Auf der kognitiven Ebene erzählt der Pixar-Film FINDET NEMO beispielsweise davon, wie wichtig Freiheit ist. Der überfürsorgliche Vater muss lernen, seinen Sohn loszulassen, und sein Sohn muss sich aus einem Aquarium befreien. Nach dieser Lesart ist schwer verständlich, weshalb der Film dazu führte, dass die Nachfrage nach Clownsfischen so enorm anstieg, dass sie beinahe ausstarben. Die Ursache liegt in unserem limbischen Gehirn, das über eine archaische Belegung der Welt mit Ängsten und Begierden unser Verhalten regelt. Es nimmt ganz andere Botschaften in dem Film wahr: 1. In aufregenden Szenen erleben wir, dass im Leben ein Risiko dem nächsten folgt und dass wir all diese Risiken überleben können. 2. Eine Sehnsucht nach Miteinander wird in uns geweckt. Die ganze Geschichte ist bestimmt vom Wunsch nach Wiedervereinigung von Vater und Sohn, und Freundschaften spielen dabei eine große Rolle. 3. Wir entwickeln starke positive Gefühle für die gezeigte Unterwasserwelt, auch für die des Aquariums. Sie berührt uns mit ihrer Niedlichkeit und Verspieltheit. Die Botschaften 2 und 3 liegen nahezu auf einer Linie und walzen gemeinsam jede kognitive Botschaft nieder. Unser limbisches System funkt nur noch eins: „Clownsfisch: will ich haben“.

Disparate oder widersprüchliche Botschaften in einem Werk können kombiniert durchaus Sinn ergeben, zum Beispiel, um zu verunsichern oder zur Reflexion anzuregen. Wichtig ist jedoch ein bewusster Umgang mit ihnen. Gerade ganz basale, unbewusst-emotionale Eindrücke der Rezeption sollten aufgespürt und unter die Lupe genommen werden, damit die Wirkung des Gesamtwerks nicht von unerwünschten Effekten torpediert wird. 

Schlussbemerkungen

Das Bemühen um sensibleres Erzählen ist auch eine Suche nach sensibleren Umgangsformen im gesellschaftlichen Miteinander. Der Weg dorthin führt über die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Sozial-, Moral-, Verhaltens- und Neuropsychologie. Dabei ist ein mutiges Annehmen der Paradoxien der menschlichen Psyche und der theoretischen und praktischen Komplexität gefragt. Die oben geschilderten Wirkmechanismen bieten nur einen kleinen Einblick.

Darüber hinaus können wir natürlich auch über das Geschichtenerzählen und über eine große Vielfalt von Narrativen zum gesellschaftlichen Wandel beitragen. Fiktionale Narrative liefern uns Angebote, aus denen wir unsere individuelle und soziale Identität, unsere Moral und unsere Visionen generieren. Vielfältige Angebote führen zu einem pluralistischen Diskurs.

Nicht zuletzt setzt ethisch verantwortliches Erzählen aber voraus, dass wir selbst Stoffentwicklerinnen und Stoffentwickler – uns von der unbewussten Vereinnahmung durch konsumierte Narrative befreien und eigene kognitive Verzerrungen auflösen. Die Analyse des eigenen Reaktanzverhaltens kann hier helfen, ebenso nützlich sind längere Phasen des Digital Detox. Denn Spider-Mans Onkel Ben Parker hat ja Recht: Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.

Anmerkung: Die zur Erstveröffentlichung vorliegenden Nachweise für das Beinahe-Aussterben der Clownsfische erwiesen sich inzwischen als nicht belastbar. Weitere Anmerkungen und eine Bibliographie zu diesem Artikel: www.frank-raki.de/moral-und-erzaehlen.html