In den letzten Jahren wird viel darüber geschrieben, was sich in der deutschen Film- und Serienbranche ändert und auch noch ändern sollte: Kontrakt 18, die Neuausrichtung des Drehbuchverbandes, Novellierungen des FFG u.v.m. Die Liste ist lang und stimmt optimistisch. Was man dagegen seltener findet, sind Ansätze für die Weiterentwicklung bei Film- und Serienformaten selbst. Dabei sollte das eigentlich ein zentraler Punkt sein. Denn schließlich bringt eine geänderte Medienlandschaft mit global agierenden Streaming-Plattformen auch höhere und modernere Anforderungen an die Formate hervor. Hier dazu eine Anregung anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des Filmklassikers GRAVITY (USA 2013).
Zur Erinnerung: GRAVITY ist ein Film von Alfonso Cuarón (was man in diesem Fall tatsächlich so sagen kann), der Regie führte, mitproduzierte und zusammen mit seinem Sohn und dem Darsteller George Clooney das Drehbuch schrieb. Die Hauptrolle spielte Sandra Bullock. GRAVITY hatte laut Box Office Mojo ein Budget von ca. 100 Millionen Dollar und spielte weltweit über 723 Millionen ein. Der Film wurde vor allem wegen seiner spektakulären Weltraumbilder gefeiert, die damals so etwas wie den nächsten Schritt in der digitalen Revolution darstellten. Aber das ist bei Weitem nicht das einzig Herausragende.
Viele, die GRAVITY gesehen haben, ordnen den Film ins Science-Fiction Genre ein: Weltraum, Raumschiffe und Astronauten deuten oberflächlich gesehen auch in diese Richtung. Tatsächlich fehlt aber das wichtigste Element des Genres, nämlich die namensgebende wissenschaftlichtechnische Vision. Es gibt bei GRAVITY zwar hochentwickelte Raumschiffe, mit denen Astronaut*innen das All befahren. Aber die entsprechen mehr oder weniger dem damaligen technischen Stand. Um zukunftsweisende Technologie handelt es sich also nicht. Ebenso wenig gibt es bei GRAVITY innovative Visionen oder gar Umsetzungen. Auch eine Dystopie, die ihren Ursprung in unseren aktuellen Fehlern hätte, sucht man vergebens.
Die äußeren Bedrohungen fordern daher ihren Willen und Mut zum (Über-) Leben doppelt heraus.
Aber der Film hat noch eine andere Ebene. Eine, die für die Erzählung mindestens ebenso wichtig ist wie die spannungserzeugende äußere Bedrohung. Die von Sandra Bullock gespielte Protagonistin Dr. Ryan Stone hat ihr Kind verloren und leidet an einer daraus resultierenden Depression. Die äußeren Bedrohungen fordern daher ihren Willen und Mut zum (Über-)Leben doppelt heraus. Und der Weltraum selbst entpuppt sich neben seiner Funktion als Generator von Gefahren auch als Projektionsebene für das Innere der Protagonistin und damit als vortreffliche Metapher für das Gefühl der Leere, das Menschen befällt, die an einer Depression leiden. Und das setzt sich natürlich in den kleineren dramatischen Einheiten fort wie Äste bei einem Baum: Wenn Ryan Stone minutenlang im Raumanzug durchs All trudelt, dann geht es nicht nur um die damit verbundene Lebensgefahr, es geht auch wortwörtlich darum, den HALT ZU VERLIEREN oder INS SCHLINGERN ZU KOMMEN.
Wenn sie einen Feuerlöscher als Raketendüse benutzt, um frei durchs All zu einer chinesischen Raumkapsel zu gleiten und es dann schließlich schafft, das allerletzte Eckchen zu greifen zu bekommen, wird nicht nur die Spannung bis ins Unerträgliche gesteigert, es geht gleichzeitig auch darum, HALT ZU BEKOMMEN.
Wenn sie einen Fallschirm loswerden muss, der sich um ihre Raumkapsel verheddert hat, geht es auch darum, sich von Dingen, die einen behindern und aufhalten ZU LÖSEN. Auch bei der folgenden Abkopplung von Raketenstufen – man ahnt es schon – geht es nicht nur um die physische Rettung, sondern ebenso um das LOSLASSEN.
Als Dr. Stone es schließlich schafft, auf die Erde (und damit ins Leben) zurückzukehren, landet sie erst einmal in einem See und muss es schaffen, an die Oberfläche aufzusteigen – ebenfalls eine klassische Metapher für das AUFTAUCHEN aus den Tiefen der eigenen Psyche ins Hier und Jetzt des Lebens.
Und last but not least muss sie es (dem Titel des Films folgend) am Strand des Sees schaffen, die mittlerweile ungewohnte titelgebende Schwerkraft (Gravity) zu überwinden und AUFZUSTEHEN. Für eine Figur, die krank war und jetzt gesundet, ebenfalls ein allgemein nachvollziehbares Bild.
Diese Beispiele stellen natürlich nur eine Auswahl dar. Wenn man sich des Prinzips einmal bewusst ist, bemerkt man im Film noch viel mehr Sinnbilder für die Krankheit und den Weg der Figur aus ihr heraus. Interessant ist dabei ja nicht nur, dass der innere Weg der Protagonistin in diesen Metaphern erzählt wird. Bemerkenswert ist auch, dass dies so konsequent durchgehalten wird.
Konsequent erzählt wird bei GRAVITY auch indexikalisch, also in Form von Verweisen (wie z.B. Rauch steht für Feuer): Die Sauerstoffanzeigen in den Raumschiffen stehen für Stones Gemütszustand. Ist die Luftsituation schlecht, bedeutet es, dass Stone ihren Mut sinken lässt und dabei ist, sich selbst aufzugeben; steigen die Pegel, ist sie guten Mutes und bereit, die jeweils anliegende Herausforderung zu meistern. Ein Gradmesser, den sich das Publikum so wie die Bedeutung der Metaphern erst erschließen muss. Und der präzise und ganz ohne Dialoge, sondern nur mit Bildern auskommt.
In GRAVITY geht es nicht um Technologie, es geht um Psychologie, bzw. den inneren Weg der Heldin.
Dabei zeigt sich auch, dass die von dem amerikanischen Astrophysiker Neil deGrasse Tyson und anderen Wissenschaftlern geäußerte Kritik an den technisch wissenschaftlichen Unschärfen des Films letztlich zu kurz greift. Die technischen Gerätschaften stehen hier nicht im Mittelpunkt, sondern sind nur Mittel zum Zweck. In GRAVITY geht es nicht um Technologie, es geht um Psychologie, bzw. den inneren Weg der Heldin.
Ich mache hier mal einen harten Cut und kehre zum Deutschen Film zurück. Wie würde GRAVITY als deutscher Film aussehen, frage ich mich – in vollem Bewusstsein, dass dies ein sehr hypothetisches und vielleicht auch etwas unfaires Gedankenspiel ist (zumindest was die Budgetmöglichkeiten betrifft). Ich spiele es dennoch einmal kurz durch:
Beginnen wir beim Thema, erfahrungsgemäß nehmen die meisten deutschen Filmprojekte dort ja ihren Anfang (wenn man vielleicht von Adaptionen absieht): also das Thema Depression. Beim Genre muss ich ebenfalls nicht lange überlegen: Die Mehrheit der deutschen Kinoproduktionen besteht aus Dramen, und ganz unpassend scheint das bei unserem Thema auch nicht zu sein. Ich stelle mir also (analog zu GRAVITY) eine Protagonistin vor, die bei einem Unfall ihr Kind verliert und daraufhin in eine schwere Depression verfällt. Die keine richtige Hilfe findet, schließlich von Mann und Freunden verlassen wird. Die aber kämpft, neue Menschen und Therapiewege sucht, enttäuscht wird und schließlich vor der Entscheidung zwischen völliger Selbstaufgabe (vielleicht auch Selbstmord) und Rückkehr ins Leben mit all seinen Unwägbarkeiten und Kämpfen steht. Und sich am Ende für Letzteres entscheidet.
Im Prinzip also die gleiche Geschichte – nur anders erzählt. Eben ohne Metaphern und indexikalisches Erzählen. Was bei GRAVITY in Handlungen und Bilder codiert ist, wird hier direkt und offen erzählt. Bei GRAVITY eskapistischer Weltraum als phantasievolle Arena für spannende Überlebenskämpfe, dessen Leere als Sinnbild für die Krankheit steht – hier 1:1 sozialrealistisch dargestellter alltäglicher Kampf einer Leidenden.
Manche würden behaupten, dass Letzteres die konsequentere, vielleicht einzig richtige Erzählweise ist. Dass Weltraum und Satellitenschauer nur überflüssiges Ornament sind, weil die Geschichte sie ja nicht unbedingt braucht, um erzählt zu werden. Wie die Erweiterung einer mathematischen Gleichung, die man getrost wieder herauskürzen kann, ohne dabei an Wert und Aussage zu verlieren.
Dass solche puristischen Varianten zumindest funktionieren, haben Filme wie DAS WEISSE RAUSCHEN (D 2001) schon lange bewiesen. Ob es die „richtigere Art des Erzählens“ ist (sofern man von so etwas überhaupt sprechen kann), wage ich persönlich eher zu bezweifeln. Weil die Metapher schon seit jeher ein besonders eingängiges und elegantes Mittel der Kommunikation ist, das Informationen nicht als Fertiggericht serviert, sondern zum eigenständigen Entdecken und Interpretieren auffordert. Weil das Erzählen in großen, phantasievollen Bildern und Handlungen die sinnlichen Möglichkeiten des Films ausschöpft. Und weil ich persönlich die Filme schmerzlich vermissen würde, die es schaffen, mit der Intensität und Kraft einer Kanonenkugel auf mich zu zu rollen.
Aber das muss letztlich jede*r für sich selbst entscheiden. Mir geht es hier nur um die Anregung, Drehbücher mal anders zu denken und zu konzipieren. Ich hoffe, ich war damit erfolgreich.