Wer bisher Schwierigkeiten hatte, sich unter dem Begriff „Dramaturgie der Systeme“ etwas Konkretes vorzustellen, findet gegenwärtig gute Gelegenheiten, sich ein genaueres Bild zu machen - einerseits hinsichtlich der eigenwilligen Erzähltechnik, welche in zwei exemplarischen Beispielen interessante Resultate erzielt, und andererseits hinsichtlich der zum Teil enormen Breitenwirksamkeit dieser Herangehensweise.
Zur Erinnerung: Von „Dramaturgie der Systeme“ spricht man (spreche ich), wenn der Antagonismus nicht zwischen Personen liegt, sondern eine der handelnden Kräfte von einem anonymen Regelwerk gebildet wird, auf das die Individuen kaum direkten Einfluss haben. Im Zentrum steht dann die Auseinandersetzung einzelner Charaktere mit einem System. Die Beziehungen werden asymmetrisch: Während Menschen Austausch, Resonanz und Gegenseitigkeit suchen, agieren Systeme funktional. Sie gehorchen sich selbst. Es scheint, dass diese Erzähltechnik an Bedeutung zunimmt und sich immer häufiger und auch erfolgreicher finden lässt.
HELDIN
Beginnen wir mit HELDIN (B+R Petra Volpe), dem etwas weniger radikalen Beispiel, das man insofern als „semi-systemisch“ bezeichnen könnte, als noch eine klare Hauptfigur vorliegt. Floria (Leonie Benesch) ist als Krankenschwester das Opfer einer Verwaltung, die zu wenig Personal und Ressourcen zur Verfügung stellt. Die Folge sind Überforderung, Ohnmacht und Verzweiflung. Wir beobachten eine Frau beim Versuch, einfach zu funktionieren – was ihr unter den beschriebenen Umständen nicht möglich ist, weil sie ein Mensch ist und Fehler machen muss.
Die innere Befindlichkeit der Protagonistin ist dabei relativ irrelevant. Von ihrer privaten Situation erfährt man Andeutungen, mehr nicht. Innere Entwicklung, Charakterbogen, eine Want-Need-Schere usw. sucht man vergebens.
Florias Gegenspieler sind nicht oder nur ausnahmsweise ihr Patientinnen; die antagonistische Kraft bildet vielmehr das gesellschaftliche und politische System, das billigend in Kauf nimmt, die Verpflegung und Betreuung von Krankenhauspatientinnen überlasteten Menschen anzuvertrauen. Die Verantwortlichen – Chefs, Verwalterinnen, Finanzexpertinnen, whoever – bleiben unsichtbar; man könnte sagen: Die Antagonistinnen sind wir Bürgerinnen, die wir ein dysfunktionales und unwürdiges Gesundheitssystem hinnehmen.
Aus Florias Überlastung ergeben sich zwangsläufig Fehlerketten, welche diverse Dilemmata und Eskalationen nach sich ziehen müssen. Am Ende wird eine Patientin gestorben sein und der Kontakt mit einem besonders unangenehmen Privatpatienten wird eine unerwartete Wendung genommen haben, andere Patient*innen haben sich in ihrer Situation neu eingerichtet. Obwohl für Floria am Ende nichts wirklich anders ist, hat sich das Publikum einerseits mit der Schicksalhaftigkeit des Daseins konfrontiert und andererseits einer Gesellschaft dabei zugesehen, keine Mittel zu finden, mit diesem Schicksal angemessen umzugehen.
HELDIN ist ein unaufwendiger Schweizer Film, der aber mit dieser Erzähltechnik in Deutschland inzwischen schon annähernd 300.000 Zuschauer*innen erreicht hat, was sehr selten ist. Man könnte argumentieren, dass viel aufs Konto der Hauptdarstellerin Leonie Benesch geht, die sich bereits in DAS LEHRERZIMMER großer Beliebtheit erfreut hat. Das würde aber den Begründungszusammenhang nur verschieben, denn auch DAS LEHRERZIMMER war bereits ein Film, der sich (wenn auch nicht ganz so konsequent) der „Dramaturgie der Systeme“ verschrieben hatte. Zutreffender wäre wohl eher die Beobachtung, dass Arthouse-Filme dann Aussicht auf Publikumserfolg haben, wenn sie direkt ins Herz gesellschaftlicher Missstände und Problemfelder zielen – was bei HELDIN dank des dramaturgischen Ansatzes offenbar der Fall ist.
ADOLESCENCE
Kommen wir zu ADOLESCENCE, einem noch weit radikaleren Beispiel. Bekanntlich brach diese Serie viele Rekorde der Streaming-Plattformen. Auf den ersten Blick ist es die spektakuläre erzählerische Entscheidung, das Geschehen in vier (atemberaubend choreografierten) Plan-Sequenzen ohne Schnitt zu filmen, welche der Serie ihr Alleinstellungsmerkmal verleiht. Bei etwas genauerer Betrachtung wird man aber verblüfft feststellen, dass erzählerisch so gut wie alle gängigen Muster unterlaufen werden: Es gibt keine Hauptfiguren, (fast) keine Charakterentwicklung, kein Want, kein Need, wenig Innenleben. Obwohl eigentlich ein Krimi erzählt wird, folgen wir nicht einem Detektiv oder einer Detektivin, sondern nur bestimmten gesellschaftlichen Prozessen rund um die Tat. Eine Begründung der Motive, die zur Tat geführt haben, entfällt ebenso wie die Einfühlung in die Welt des Opfers. Nicht Aufklärung ist das Ziel, sondern die Betrachtung der Bedingungen.
Der Mord an einem Teenager, begangen durch den dreizehnjährigen Jamie (Owen Cooper) ist daher nur der Ausgangspunkt für vier sehr unterschiedliche Blickwinkel auf einen bestimmten Tatbestand.
Die erste Episode behandelt das System „Justiz“, indem schonungslos alle Details der Verhaftung und des Verhörs von Jamie dargestellt werden. Das tatverdächtige Kind wird einem gnadenlosen Regelwerk ausgeliefert und groteskerweise führt gerade der Versuch, dem Verdächtigen möglichst viele Rechte einzuräumen, zum Eindruck, dass Jamie jeglicher Menschlichkeit, also etwa des Kontakts zu den Eltern, beraubt wurde.
Die zweite Episode untersucht das System „Schule“: Es geht um Zugehörigkeiten, Rivalitäten und Rankings innerhalb des Umfelds von Täter und Opfer. Zu einer menschlichen Reaktion auf den Tod der Ermordeten im Sinne von Trauer, Mitgefühl, Betroffenheit ist das System Schule nicht fähig. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass eigentlich Jamie mit dem Mord nur einer kollektiv aufgeheizten Stimmung Ausdruck verliehen hat. Die Tatsache, dass hier wie auch in Episode 1 ein bestimmter Polizist zentral im Bild ist, verleitet zur Annahme, dieser sei auf die ganze Serie gesehen die Hauptfigur – was aber nicht der Fall ist.
Denn die dritte Episode konzentriert sich fast ausschließlich auf ein Gespräch zwischen Jamie und seiner Psychologin. Es wäre nun unsinnig, diese Auseinandersetzung mit Jamies Seelenleben als „systemisch“ zu bezeichnen – der lange Dialog zwischen Psychologin und Kind folgt ausnahmsweise klassischen Mustern. Aber die schreiende Dissonanz, mit der die Episode in dem Augenblick endet, als Jamie realisiert, dass sich ihm die Psychologin nicht aus Menschenfreundlichkeit anvertraut, sondern nur eine funktionale Aufgabe erfüllt hat, legt wieder den Finger auf die beschriebene Asymmetrie: Jamie verlangt nach empathischer Zuwendung; die Psychologin aber macht nur ihren Job.
In der vierten und letzten Episode ergibt sich wieder eine völlig andere Konstellation: Im Zentrum steht das System „Restfamilie“, das versucht, mit den Folgen von Jamies Tat zurechtzukommen und sie, wenn möglich, zu verdrängen oder zu vergessen. Die Zuwendung, die Jamie eigentlich bräuchte, wird ihm auch vonseiten der Eltern und der Schwester kaum zuteil, denn diese sind – wie jedes System – in erster Linie mit sich selbst beschäftigt. Jamie, eigentlich der Täter, wird zum Opfer.
Der einzige Bogen, wenn überhaupt, der alle Episoden zusammenhält, ist zum einen das Rätseln über eine ungeheure Tat, die für die Gesellschaft zur Belastungsprobe wird, und zum andern das Ringen des Kindes um das Eingeständnis, tatsächlich für die Tat verantwortlich zu sein. An so etwas wie „Aufklärung“ im eigentlichen Krimi-Sinn haben die Autor*innen kein Interesse, sie belassen es bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen. Dabei wird deutlich, wie hilflos und alleingelassen das Kind, Schuld hin oder her, eigentlich ist – von Seiten des Rechtssystems, der Schule und der überforderten Familie.
Man ist nun im Falle außerordentlicher Erfolge immer schnell mit Erklärungen zur Hand, womit man es sich meistens zu einfach macht. Daher soll auch hier nichts einseitig überspitzt formuliert werden: Die sensationelle Performance von ADOLESCENCE hat sicher viele Gründe. Gleichwohl darf man aus der Breitenwirkung von HELDIN wie auch von ADOLESCENCE schließen, dass hier neue erzählerische Ansätze gefunden wurden, um aktuelle gesellschaftliche Prozesse zu beschreiben.
Denn der Kampf um die Würde von Pflegerinnen und Betreuerinnen im Krankenhaus ist ein gegenwärtig genauso großes Problem wie die Beobachtung, dass die sozialen Medien zur Zunahme von unkontrollierter Gewalt unter Jugendlichen führen können. Insofern wirkt es nur konsequent, sich erzählerischer Techniken zu bedienen, welche versuchen, genau diesen neuen Prozessen auch eine innovative narrative Entsprechung zu verleihen.
Das bedeutet in Summe nicht, dass die Dramaturgie der Systeme „besser“ oder erfolgversprechender sein muss. Aber sie öffnet den Blick auf erzählerische Freiräume, die zumindest in Deutschland eher selten genutzt und noch seltener konsequent beschrieben werden, obwohl sie allem Anschein nach mit dem Erleben großer Teile des Publikums bestens kompatibel sind. Und mit denen auseinanderzusetzen sich lohnt.