#54
November 2022
Liebe Leserinnen und Leser,
als Dramaturgen und Stoffentwicklerinnen sind wir bei unserer Arbeit hauptsächlich mit der Frage beschäftigt, wie wir Geschichten erzählen. Häufig diskutieren wir untereinander auch, welche Geschichten wir erzählen. In der aufgeheizten Gegenwart erscheint mir jedoch die Frage, warum wir Geschichten erzählen, drängender als zuvor. Dabei bekommen wir diese Frage tagtäglich beantwortet. Schlagzeilen, Headlines und Pop-Up-Nachrichten machen deutlich, wie sehr es beim Erzählen auf die Deutung der Welt ankommt. Besonders perfide zeigt sich das meiner Ansicht nach in der gegenwärtigen Kriegsberichterstattung, wenn ein und dasselbe Ereignis unterschiedlich gedeutet und erzählt wird. Im Krieg stirbt bekanntlich die Wahrheit zuerst.
In diesem Sinne erscheint mir die neue Ausgabe unseres WENDEPUNKT brandaktuell. Für mich sind die Beiträge meiner Kolleginnen Gisela Wehrl und Eva-Maria Fahmüller eine überzeugende thematische Klammer. Aus aktueller Neugierde habe ich diesmal hinten angefangen zu lesen. In ihrem beeindruckenden Artikel erzählt Gisela Wehrl von ihrer Zusammenarbeit mit dem Dokumentarfilmer Pawl Siczek. Die Frage nach dem Warum des Geschichtenerzählens beantwortet sie klar. Es geht um die Deutung von Welt und ums Gehörtwerden. Eindrücklich beschreibt sie, wie sich Narrativ und Aufmerksamkeitsökonomie bedingen. Hinzu kommt der Gedanke, den Eva-Maria Fahmüller in ihrem Artikel aufgreift. Gegenwart ist nicht ohne Vergangenheit zu begreifen und die Geschichte einer Welt unabdingbar für ihre Erzählung. Doch eine Welt macht noch keine Geschichte und so schließt sich die Diskussion, die Roland Zag mit Bartosz Werner und Christian Mertens führt an diese Überlegungen an, wenn sie die Beziehungen zwischen Figur, Kollektiv und System beleuchten und die Bewegungen von Figuren als räumliche Kräfte beschreiben.
Zwischen diesen Beiträgen bietet unser aktuelles Heft aber auch ganz praktische und handfeste Anregungen für unseren Arbeitsalltag. Im zweiten Teil des Aufsatzes „Tools und Templates“ erläutert Evi Goldbrunner den Einsatz analoger und digitaler Werkzeuge bei der Entwicklung von Steps, Beats, Akten und Episoden von High-End-Serien. In einem kurzen Interview gibt Oliver Schütte Einblicke in sein gerade erst erschienenes Buch„Die Kunst der Stoffentwicklung“.
Im wahrsten Sinne berührt hat mich Arno Aschauers kenntnisreiche Beschreibung des Melodrams, die sich in einer zweiten Folge dem queeren Melodram in seiner ganzen Spannbreite widmet. Björn Breithor verdanken wir den aufregenden Einblick ins Genre der Scripted Reality, die gerade mit der RICHTERIN BARBARA SALESCH ein Revival erlebt. Ein Genre, das den in meinen Augen wichtigsten dramaturgischen Anspruch forciert: Unterhaltung. In diesem Anspruch steckt nicht nur Spaß, sondern die Aufgabe Interesse zu wecken, womit wir wieder beim Thema Aufmerksamkeitsökonomie wären.
Natürlich gibt es auch in diesem WENDEPUNKT unseren Fragebogen, diesmal mit unserem Mitglied Daniel Ehrenberg, und neben Terminen und Neuigkeiten aus dem Verband einen Rückblick auf „Tatort Eifel“, denen ich ebenso viel Aufmerksamkeit wünsche.
Dr. Enrico Wolf